Dienstag, 28. Februar 2006

Asozial?

Ich habe kein Problem damit, Schinken vom Aldi zu essen. Etwas, was für meine Mutter indiskutabel ist. Nein, keinerlei Berührungsängste. Überhaupt hat Aldi einige leckere Sachen, die ich in anderen Märkten vergeblich suche; und meine Reitweste vom Lidl ist unschlagbar und anscheinend auch unkaputtbar.
Nur: Ich gehe nicht gerne dort einkaufen. Oder überhaupt in Supermärkten in Sozialen Brennpunkten, die sich hier in Neuwied nahtlos aneinander reihen. Im Grunde ist Neuwied ein einziger sozialer Brennpunkt. Und ich bemerkte heute erst am zweiten Regal, dass ich wieder in einem Sozialen-Brennpunkt-Supermarkt gelandet bin.
Es gibt zwei Gründe, weshalb ich nicht gerne in solche Supermärkte gehe. Zum einen, weil ich eine sehr feine Nase habe und Schweißgeruch anscheinend zur Innenausstattung von Aldi und Lidl gehört. Menschen mit beißendem Schweiß im Polyacrylpullover. Ich kann mich dann nicht mehr auf die Nahrungsmittel konzentrieren. Schon gar nicht auf den Gedanken ans gekochte Essen. Und kaufe nur noch Mist ein.
Der andere Grund wiegt aber viel schwerer. Ich kann die gescheiterten Existenzen, die sich da durch die Gänge nölen, schieben, rollen, schmuddeln, nicht ertragen. Denn das, was andere tun - einfach weggucken, sich distanzieren, sich über diese Menschen erheben - gelingt mir nicht. Überheblichkeit hängt immer mit Ignoranz und Distanz zusammen. Ohne das ist Überheblichkeit unvollständig. Ich habe keine Distanz. Ich denke zwar: "Oh bitte, nicht diese dicke Schleim hustende und nach Schnaps stinkende Oma mit den fettigen drei Strähnen auf dem Kopf und den Hausschuhen über der zerrissenen Nylonstrumpfhose hinter mir an der Kasse, das ertrage ich nicht, da kriege ich keine Luft mehr....", aber ich kann auch nicht wegschauen. Ich suche nach Erklärungen. Nach etwas Nettem, Liebenswerten. Ich versuche zu verstehen, warum man so wird und frage mich, ob ich davor gefeit bin, so zu werden. Was muss passieren, dass ich so werde? Wie schnell kann es gehen? Und: Kann man da wieder rauskommen? Könnte diese Assi-Oma - und ich mag das Wort Assi nicht - sich noch ändern? Merkt sie eigentlich, dass sie stinkt? Sieht sie die Flecken auf ihrem ausgeleierten Pullover? Schämt sie sich vielleicht? Was tut ihr weh? Spürt sie überhaupt noch etwas? Hat sie jemand, der sie liebt? Hat sie Kinder und was ist aus ihnen geworden? Haben sie ein besseres Leben? Oder empfindet sie ihr Leben vielleicht gar nicht als schlecht? Nehme ich das nur an, weil ich in einem Haus voller Bücher und Bildung groß geworden bin und denke, das ist ein Glücksfall? (Ist es nicht zwingend...) Und diese Frau mit dem Kopftuch und dem verhuschten Blick und dem weinenden Kind auf dem Arm, hat sie vielleicht Angst hier in der Fremde? Versteht sie etwas von dem, was gesprochen wird? Ist ihr bewusst, wie laut ihre Kinder sind? Vermisst sie die Länder, in denen Kinder laut sein dürfen und keiner deshalb schief guckt? Versucht sie Deutsch zu lernen? Oder verbietet es ihr Mann? Weil er Angst hat, dass sie zu stark wird? Ist das nun wieder unser westliches Klischee-Denken? Aber vielleicht wird sie ja geschlagen - sie sieht so traurig aus. Und welche Chancen hat der plärrende Kleine? Eingequetscht zwischen tristen Wohnblocks und unzähligen sozialen Stolperfallen? Begreift so ein Kind, wo es aufwächst? Oder ist das völlig unerheblich, so lange es geliebt wird?
Es ist ein Gedankenkarussell, das spätestens in der Kassenschlange rasende Fahrt gewinnt und sich dreht und dreht... Ich fühle mich unwohl und schäme mich für mein Hochdeutsch, wenn ich mit der Kassiererin rede. Ich hab das Gefühl, mir die Hände waschen zu müssen, und auch dafür schäme ich mich. Ich habe nur die Hälfte der Sachen gekauft, die ich eigentlich haben wollte, weil ich es nicht mehr aushielt. Es ist so traurig. Es ist zu viel, um es auffangen zu können. In diesen Momenten würde ich so gerne etwas bewirken, aber sobald ich wieder in unseren fußbodengeheizten 108 Quadratmetern mit Flussblick bin, lässt die Anspannung nach und ich werde wieder realistisch. Was kann ich schon ausrichten? Ändern? Ich kann höchstens darüber schreiben, mehr liegt nicht in meiner Macht. Und wenn ich nicht aufpasse, gehöre ich vielleicht bald selbst dazu. Es kann passieren, jederzeit, an jedem Ort.
Die Fahrt nach unten ist für alle offen.

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Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:08

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